Die Dynamische Interpretation der Himmelscheibe von Nebra

Zeigt die Himmelsscheibe einen Mechanismus aus rollenden Kreisen zur Darstellung des Sonnenjahres?

von Burkard Steinrücken, Forschungsprojekt Vorzeitliche Astronomie, Westfälische Volkssternwarte und Planetarium, Stadtgarten 6, 45657 Recklinghausen, steinruecken(at)sternwarte-recklinghausen.de
Die Dynamische Interpretation der Himmelsscheibe von Nebra

Einleitung

Die Himmelsscheibe von Nebra - Landesamt für Archäologie, Sachsen-Anhalt

Abb. 1: Die Himmelsscheibe von Nebra Bildnachweis: Landesamt für Archäologie, Sachsen-Anhalt.
Die sensationelle Bronzescheibe mit Himmelsdarstellung von Nebra, die Raubgräber im Sommer 1999 zufällig aus dem Boden des Mittelbergs im Ziegelrodaer Forst bei Nebra in Sachsen-Anhalt (51°17´ Nord, 11°32´ Ost, Abb. 1) wühlten, ist ein einzigartiges Zeugnis von wissenschafts- und religionsgeschichtlicher Bedeutung aus der Bronzezeit.
Kein ähnlicher Fund hat je das Licht unserer Zeit erblickt und die in der Himmelsscheibe manifeste Symbolsprache mathematischer und astronomischer Prägung kann deshalb nicht annähernd durch den Vergleich mit anderen Objekten gleicher Zeitstellung entschlüsselt werden.
In diesem hoffentlich nur vorläufigen Stadium der Einmaligkeit liefern allein die mathematische Analyse der Darstellung und der Rückschluss auf die in der Bronzezeit gültige Phänomenologie der astronomischen Erscheinungen feste Eckpfeiler zur Aufdeckung der geistigen Prinzipien, die der Himmelsscheibe zugrunde liegen.

Die mathematische Analyse der Form und Lage der Bildsymbole auf der Himmelsscheibe lässt auf eine erstaunliche Vielfalt von Symmetrien und geometrischen Prinzipien bei ihrer Gestaltung schließen. Durch Anpassung von Kreisen und Ellipsen nach der Methode der kleinsten Abstandsquadrate an den Scheibenrand, die Segmente und die runden Bildsymbole erhält man ein Geflecht sich berührender und durchdringender Kreise und Ellipsen (Abb. 2).

Die mathematische Struktur dieses Ringsystems legt nahe, die Scheibe als Sinnbild für einen Mechanismus aus rollenden Kreisen zu interpretieren, der die räumlichen und zeitlichen Aspekte des Sonnenjahres und die Sichtbarkeit der Plejaden in den verschiedenen Jahreszeiten auf der geographischen Breite der Fundgegend in einer faszinierenden geometrischen Formensprache korrekt darstellt.

Ergebnisse der Kreis- und Ellipsenanpassung an die Symbole auf der Himmelsscheibe und Bezeichnung der Ellipsen und Kreise

Abb. 2: Ergebnisse der Kreis- und Ellipsenanpassung an die Symbole auf der Himmelsscheibe und Bezeichnung der Ellipsen und Kreise in dieser Arbeit

Zur Interpretation der Bildsymbole

Die goldenen Randsegmente, von denen heute eines fehlt, entsprechen dem solaren Pendelbogen der Auf- und Untergangsorte zwischen den Richtungen der Sommer- und Wintersonnenwende auf dem Horizont. Das lässt sich aus ihrer Winkelspanne von 82,7°, die dem beobachtbaren Pendelbogen der Sonne in Sachsen-Anhalt zur Bronzezeit genau entspricht, mit guter Sicherheit erschließen.
Die Zuordnung der anderen Bildsymbole zu bestimmten Himmelskörpern oder astronomischen Ereignissen ist dagegen nicht eindeutig. Die goldenen Zentralobjekte können als Sonne oder Vollmond bzw. als Mondsichel oder partielle Phase einer Sonnen- oder Mondfinsternis interpretiert werden. Solche Deutungen überzeugen allerdings nicht vollends, da die Zentralobjekte anders als es in der Natur der Fall ist, einen stark unterschiedlichen Außendurchmesser aufweisen.
Die Dynamische Interpretation weist den Zentralobjekten eine völlig andere Bedeutung zu: Sie sind in Form und Lage derart platziert, dass mit ihnen durch den Kontakt mit beweglichen Kreisen besondere Kalenderdaten im Sonnenjahr ausgezeichnet sind.
In der ebenmäßigen und sternbildlosen Sternanordnung lässt sich im Häuflein der sieben gedrängt stehenden Sterne ein zur Rundheit abstrahiertes Symbol für die Plejaden ausmachen. Dies ist die wahrscheinlichste Deutungsvariante und auch die Dynamische Interpretation bestätigt diese Auffassung. Besonders rätselhaft ist das runde Schiffssymbol, für das es keine Entsprechung am Nachthimmel gibt. Stilistische Vergleiche legen nahe, dass es sich dabei um ein ruderbestücktes, aber leeres Boot handelt, ein in der europäischen Bronzezeit weit verbreitetes religiöses Symbol. Es versinnbildlicht die ewige Bewegung der Sonne oder des Himmels.
Die Dynamische Interpretation weist insbesondere diesem Symbol einen konkreten Bewegungscharakter zu. Es ist gewissermaßen Motor des Mechanismus. Sein Umlauf entspricht dem jährlichen Sonnen- und Jahreszeitenkreislauf und sein Stand am Rand der Scheibe ist damit Ausweis eines bestimmten Datums. Seine Größe, Lage und Ausdehnung (die Höhe von Bug und Steven) erklärt sich im Rahmen der Dynamischen Interpretation ebenfalls durch Kontaktphänomene mit anderen Bildelementen.

Einführung beweglicher Elemente – 1. Stufe

Die Anpassung von Kreisen und Ellipsen an die Bildsymbole führt zu Ergebnissen hinsichtlich der Größe und Lage der Symbole, die innerhalb von ca. 1-2 mm Toleranz, was im Bereich der Fertigungsgenauigkeit von ca. 1% der Gesamtgröße der Scheibe liegt, aussagekräftig sind. Der Löcherrand liegt auf einer Ellipse mit dem Halbachsenverhältnis von 256 / 244. Der teilweise zerstörte Scheibenrand, auf den es hier ankommt, lässt sich durch Zugabe eines kleinen Abstandes zum Löcherrand rekonstruieren, wenn man annimmt, dass die Löcher im gleichen Abstand zum Rand angebracht wurden. Auf einer Ellipse mit im Rahmen der Toleranz gleichem Halbachsenverhältnis liegen auch die Innenränder der Horizontsegmente. Diese innere Ellipse ist gegenüber der äußeren um 90° gedreht. Das rechtwinklige Achsenkreuz beider Ellipsen fällt auch zusammen mit dem rechtwinkligen Achsenkreuz, das man den Sonnenwende-Diagonalen zuordnen kann. Man erhält die Sonnenwende-Diagonalen, wenn man die Enden der Horizontsegmente kreuzweise verbindet. Ihr Schnittpunkt liegt etwas oberhalb der Scheibenmitte, was signifikant und im Rahmen der Dynamischen Interpretation bedeutsam ist.

Der Schiffsrotator in der Symmetrieposition auf der kleinen Halbachse der Scheibenrandellipse (Herbstanfang)

Abb. 3: Der Schiffsrotator in der Symmetrieposition auf der kleinen Halbachse der Scheibenrandellipse (Herbstanfang)

Das Schiff ist durch einen äußeren und einen inneren Kreis begrenzt. Diese Kreise berühren sich am Gegenscheitelpunkt des Schiffes. Der „Schiffsaußenkreis“ berührt den Scheibenrand und ragt bis zur Mitte der Scheibe. Sein Umfang steht mit dem Umfang der Scheibenrandellipse im Verhältnis von 1 : 2. Dieser Sachverhalt führt zur Grundidee der Dynamischen Interpretation, das zum Kreis vervollständigte Schiff auf dem Scheibenrand abzurollen. Eine solche mathematische Konstruktion eines Kreises, der am Innenrand eines zweiten Kreises mit doppeltem Radius abrollt (hier allerdings ist es eine Ellipse), wird heutzutage nach dem arabischen Mathematiker al Tusi (13. Jahrhundert n. Chr.) als „Tusi-Paar“ bezeichnet.


Die Idee des am Scheibenrand abrollenden Schiffes lässt sich ferner durch folgende Symmetrieaspekte und Beobachtungen rechtfertigen:

  1. Der „Schiffsrotator“ rollt während seines Umlaufs in die vier Symmetriepositionen auf den großen und kleinen Halbachsen der Scheibenrandellipse (Abb. 3).
  2. Durch das ganzzahlige Umfangsverhältnis von Schiffsaußenkreis und Scheibenrandellipse ist die zyklische Wiederkehr in die Ausgangsstellung gewährleistet.
  3. Die Randpunkte des Schiffsaußenkreises wandern auf (nahezu) linearen Bahnen durch die Scheibe (Eigenschaft des Tusi-Paares). Die Sektorgrenzen des Schiffes zeichnen dabei die Diagonalen der großen Mondwenderichtungen in die Scheibe (für die geographische Breite von Sachsen-Anhalt).
  4. Den Eindruck eines abrollenden Schiffes erzeugt man durch die Rotation des Zentrums des Innenkreises um das Zentrum des Außenkreises, der seinerseits auf dem Scheibenrand geführt wird. Die Winkelgeschwindigkeit der Innenkreisrotation ist dabei gleich der der Außenkreisrevolution. Das Zentrum des im Schiffsrotator exzentrisch gelagerten Innenkreises wird durch die kurzen Schiffsrandsegmente angedeutet. Dieses Zentrum berührt in Teilen des Umlaufs die Zentralobjekte auf streifenden Bahnen.

Die rollende Bewegung des Schiffes, die sich als Metapher für den ewigen Kreislauf der Sonne interpretieren lässt, wird erst durch eine Video-Animation auf dem Computer unmittelbar anschaulich:

Animation der Dynamik - Stufe 1

Animation 1
dynamik_stufe1.avi (1,6 MB)

Bemerkung zur Animation 1: Der Drehsinn des rotierenden Schiffes wurde so gewählt, dass es unmittelbar in die untere Symmetrieposition rollt, so, wie sich auch ein mechanisches Rollpendel (z.B. ein aufgeschnittenes Rohr) verhalten würde.
Nach der astronomischen Interpretation, die unten erklärt wird, ist jedoch der andere Drehsinn der richtige.

 

Für das Abspielen ist ein installierter DivX-Codec notwendig.

 

Einführung beweglicher Elemente – 2. Stufe

Der Innenradius des Sichelsymbols weicht von der perfekten Kreisform merklich ab. Dennoch ist es möglich, mit akzeptabler Genauigkeit einen Kreis anzupassen. Dieser „Mondinnenkreis“ hat im Rahmen der Toleranz den gleichen Durchmesser wie der Schiffsaußenkreis. Ein weiterer Kreis, der die Gruppe aus sieben eng stehenden Sternen einfasst („Plejadenkreis“), berührt den Mondinnenkreis an der Innenseite. Er hat den dritten Teil des Durchmessers des Mondinnenkreises.

Dies gibt Anlass zur Annahme einer weiteren Bewegungsform auf der Himmelsscheibe. Möglicherweise ist hiermit die Absicht einer zyklischen Rotation des Plejadenkreises im Inneren des Mondinnenkreises angedeutet. Verbindet man noch die beiden gleich großen Kreise fest miteinander, was hier zunächst versuchsweise geschieht und noch zu rechtfertigen ist, und lässt man nun den Plejadenkreis im Gegensinn zur Schiffsrotation epizyklisch im Mondinnenkreis rollen, so wird der Mondinnenkreis vom rollenden Schiff durch die Scheibe hindurch und über ihren Rand hinaus bewegt, aber die epizyklische Bewegung des Plejadenkreises führt die kleine Sterngruppe während des gesamten Schiffsumlaufes zweimal sanft bis zum streifenden Kontakt an den Scheibenrand heran (Abb. 4). In keinem Stadium des Schiffsumlaufs überschreitet der Plejadenkreis bei seiner Himmelsreise den Rand der Himmelsscheibe. Verändert man aber in Modellrechnungen die Ausgangslage des Plejadenkreises im Mondinnenkreis geringfügig in die eine oder andere Richtung um einige Winkelgrade, so erreicht der Plejadenkreis den Rand der Scheibe nicht bzw. überschreitet ihn. Anscheinend ist der Mechanismus bzw. die auf der Scheibe dargestellte Ausgangsstellung derart fein abgestimmt, dass das Phänomen des Randkontaktes der Plejaden nur bei dieser Justage auftritt.

Kontakt des Plejadenkreises mit der Scheibenrandellipse (Candlemas) und Kontakt des Schiffes mit der Mittelsenkrechten und einer Sonnenwend-Diagonalen.

Abb. 4: Kontakt des Plejadenkreises mit der Scheibenrandellipse (Candlemas) und Kontakt des Schiffes mit der Mittelsenkrechten und einer Sonnenwend-Diagonalen

Die Idee, in der Symbolanordnung auf der Himmelsscheibe einen derart ausgeklügelten Mechanismus zu vermuten, ist einstweilen nur durch die überraschende Besonderheit der sich einstellenden Bewegungsform und der Kontaktphänomene gerechtfertigt. Im Rahmen der astronomischen Interpretation dieser Dynamik findet man aber weitere und tiefgreifende Indizien für die Sinnhaftigkeit des Vorschlages der Plejadenreise durch die Scheibe.
Der komplette Mechanismus gemäß dieser zweiten Stufe der Dynamischen Interpretation ist in einer zweiten Computer-Animation veranschaulicht:

Animation der Dynamik - Teil 2

Animation 2
dynamik_stufe2.avi (2,4 MB)

Bemerkung zur Animation 2: Der Drehsinn des rotierenden Schiffes ist nun so gewählt, dass es aus der Ausgangsstellung im Gegenuhrzeigersinn weiter rollt. Das Schiff schleppt den Mondinnenkreis mit und darin rollen die Plejaden ebenfalls im Gegenuhrzeigersinn ab. Gibt man dem Plejadenkreis den anderen Drehsinn, so werden die Plejaden auf einer verschlungenen und sich kreuzenden Bahn geschleudert, die rechts und links über den Scheibenrand hinausführt.
Die Animation besteht aus 720 Bildern und in der Zwei-Jahres-Hypothese entspricht ein Jahr folglich 360 Bildern. Die laufende Bildnummer ist unten rechts eingeblendet. Die besonderen Daten und Ereignisse im Sonnenjahr entsprechen folgenden Bildzahlen:
Herbstanfang: 346 & 706; Frühlingsanfang: 166 & 526; Wintersonnenwende: 76 & 436; Sommersonnenwende: 256 & 616; Candlemas: 121 & 481; Mayday: 211 & 571; Lammas: 301 & 661 (oder besser 666?); Martinmas: 31 & 391; Zwei-Ring-Kontakt: 327 & 689; bewegter Mondinnenkreis am Rand: 41, 294/295, 401 & 654/655

Für das Abspielen ist ein installierter DivX-Codec notwendig.

 

Astronomische Interpretation

Der Mechanismus stellt das Sonnenjahr und seine Teilung in Einheiten gleicher Länge dar.
Der Plejadenkreis verschwindet vollständig innerhalb der Mandorla aus Schiffsaußenkreis und Mondinnenkreis, wenn das Schiffsrad in der Symmetriestellung auf den großen Halbachsen der Scheibenrandellipse steht, d.h. wenn es rechts oder links am Rand ist (Abb. 5). Der Plejadenkreis steht dagegen in der Gegenstellung zum Schiffsrad, wenn das rollende Schiff die kleinen Halbachsen passiert, d.h. wenn es oben oder unten auf der Scheibe steht (Abb. 6). Identifiziert man diese Symmetriestellungen mit dem Schiff auf den Halbachsen mit den insgesamt vier Äquinoktien in zwei Jahren, so gelangt man zu einer völlig korrekten und verblüffend umfassenden Beschreibung des Sonnenlaufes und der Plejadensichtbarkeiten in zwei aufeinanderfolgenden Jahren.

Der Schiffsrotator in der Symmetrieposition auf der kleinen Halbachse

Abb. 5: Der Schiffsrotator in der Symmetrieposition auf der großen Halbachse mit Kontakt am zentralen Rundsymbol bei gleichzeitigem vollständigen Abtauchen des Plejadenkreises in die Mandorla aus Schiffsaußenkreis und Mondinnenkreis (Frühlingsanfang)
In viel späterer Zeit dichtet Hesiod in „Werke und Tage“ Verse, die die entsprechenden Sichtbarkeiten der Plejaden im Griechenland des 8. Jahrhunderts v. Chr. übermitteln. Seine Beschreibung der Unsichtbarkeitsspanne der Plejaden stimmt genau mit ihrem im Mechanismus dargestellten Verschwinden im rollenden Schiffsrad überein:

Wenn das Gestirn der Plejaden, der Atlastöchter, heraufsteigt,
Fanget die Ernte an; die Saat dann, wenn sie hinabgehn.
Sie sind vierzig Nächt´und vierzig Tage zusammen
Nimmer gesehen; dann wieder im rollenden Laufe des Jahres
Treten sie vor zum Lichte, sobald man schärfet das Eisen.“

(deutsch von E. Eyth)

Der Schiffsrotator in der oberen Symmetrieposition auf der kleinen Halbachse der Scheibenrandellipse

Abb. 6: Der Schiffsrotator in der oberen Symmetrieposition auf der kleinen Halbachse der Scheibenrandellipse (Herbstanfang des zweiten Jahres)

Zu den zwei Frühlingsanfängen der zwei im Mechanismus dargestellten Folgejahre (Schiffsrad rechts oder links) stehen die Plejaden im Schiffs-, Zeit- oder Sonnenrad und sind am Himmel unsichtbar. Zu den Herbstanfängen (Schiffsrad oben oder unten) stehen die Plejaden fast in Opposition zur Sonne. Dies passt gut zu den Verhältnissen in der Bronzezeit. Um 1600 v. Chr. hatten die Plejaden eine ekliptische Länge von ca. 10°. Etwa 10 Tage nach Frühlingsanfang trat die Konjunktion der Plejaden mit der Sonne auf und eine entsprechende Zeitspanne nach Herbstanfang die Opposition.
Die Ausgangsstellung des Rades (Abb. 2) entspricht dann einem Datum kurz nach dem Herbstäquinoktium und damit ist das Morgenletzt der Plejaden, d.h. das Datum ihrer letztmaligen Sichtbarkeit in der Morgendämmerung während der Oppositionszeit, gezeigt. Dieses am Dämmerungshimmel sichtbare Ereignis trat im Jahreskreis der Bronzezeit etwa zwei Wochen nach Herbstanfang auf.

Diese „Zwei-Jahres-Hypothese“ führt zu überprüfbaren Konsequenzen, weil ein auf der Scheibe gekennzeichnetes Datum im ersten Jahr auch im zweiten Jahr des Zyklus durch eine entsprechende Kennzeichnung ausgewiesen sein muss. Insbesondere die vier Sonnenwenden in der zeitlichen Mitte zwischen den Äquinoktien sollten ausgezeichnet sein.

Kontakt des Schiffsmittelpunktes mit einer Sonnenwend-Diagonalen zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende

Abb. 7: Kontakt des Schiffsmittelpunktes mit einer Sonnenwend-Diagonalen zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende
Dies ist tatsächlich der Fall. Die genannte Animation mit Darstellung eines kompletten Schiffsumlaufes besteht aus 720 Einzelbildern. Die Zahlen der Einzelbilder der Animation finden sich auch in der rechten unteren Ecke der Abbildungen wieder. In der „Zwei-Jahres-Hypothese“ entspricht ein Jahr folglich 360 Bildern. Nimmt man nun die Bildnummern der Äquinoktien mit dem Schiff in einer der vier Symmetriestellungen und ermittelt die Bildnummern für die zeitliche Mitte zwischen jeweils zwei Äquinoktien, so erhält man die vier Zustände der Sonnenwenden. Die errechneten Sonnenwend-Darstellungen (siehe z.B. Abb. 7, die eine Sommersonnenwende zeigt) zeichnen sich dadurch aus, dass entweder die Mitte des Schiffsinnenkreises (bei den Sonnenwenden in der unteren Bildhälfte) bzw. die Mitte des Schiffsaußenkreises (bei den Sonnenwenden in der oberen Bildhälfte) auf den Sonnenwende-Diagonalen liegen.

Dem Künstler ist es damit gelungen, sowohl die räumlichen Aspekte der Sonnenwenden, nämlich den jährlichen Pendelbogen von 82,7° auf dem Horizont von Sachsen-Anhalt, als auch die zeitlichen Aspekte (Teilung des Sonnenjahres zusammen mit den Äquinoktien in vier nahezu gleiche Teile) auf der Scheibe darzustellen. Nur die elliptische Form ermöglicht die simultane Darstellung der räumlichen und temporalen Symmetrie des Sonnenjahres durch das auf der Scheibe rollende Schiff. Auf einem Kreis hätte es nicht funktioniert; zumindest nicht für die geographische Breite der Fundgegend.

Die weitere Teilung des Jahres in acht gleiche Teile führt auf die Festdaten in der zeitlichen Mitte zwischen den Sonnenwenden und Äquinoktien. In der englischsprachigen archäoastronomischen Literatur werden sie gewöhnlich Candlemas, Mayday, Lammas und Martinmas genannt. Im heutigen Kalender liegen diese alten Festtage in den ersten Tagen der Monate Februar, Mai, August und November.

Auf der Himmelsscheibe sind diese Daten durch den Kontakt des Mondinnenkreises mit den Rändern der Zentralringe (Lammas, Martinmas, siehe z.B. Abb. 8, die einen Martinmas-Zustand zeigt) bzw. durch den Kontakt des Plejadenringes mit dem Scheibenrand kenntlich gemacht (Candlemas, Abb. 4). Die Mayday-Zustände zeigen den Austritt des Plejadenkreises aus der Mandorla (Abb. 9).

Kontakt des Mondinnenkreises mit dem größeren zentralen Ring und Kontakt des Schiffaußenkreises mit einer Sonnenwend-Diagonale (Martinmas)

Abb. 8: Kontakt des Mondinnenkreises mit dem größeren zentralen Ring und Kontakt des Schiffaußenkreises mit einer Sonnenwend-Diagonale (Martinmas)

Die Zentralringe sind demnach so angeordnet, dass diese Kontaktphänomene zu den besonderen Kalenderdaten auftreten. Die Dynamische Interpretation, die sich im wesentlichen auf die geometrischen Erscheinungen sich berührender Kreise stützt, führt damit zu einer Auffassung über die Größe, Lage und Bedeutung der Zentralsymbole, die sich vom elementaren astronomischen Symbolgehalt von Scheibe und Sichel ablöst und auf tiefere mathematische Prinzipien bei der Gestaltung der Himmelsscheibe hindeutet.

Austritt des Plejadenkreises aus der Mandorla aus Mondinnen- und Schiffsaussenkreis, Kontakt des Schiffsaussenkreis mit der Mittelsenkrechten und (annähernder) Kontakt des Schiffsinnenkreises mit einer Sonnenwend-Diagonalen (Mayday)

Abb. 9: Austritt des Plejadenkreises aus der Mandorla aus Mondinnen- und Schiffsaußenkreis, Kontakt des Schiffsaußenkreises mit der Mittelsenkrechten und (annähernder) Kontakt des Schiffsinnenkreises mit einer Sonnenwend-Diagonalen (Mayday)
Die vier Zustände der Candlemas- und Mayday-Festtage sind durch ein weiteres interessantes Kontaktphänomen besonders herausragend gekennzeichnet. In diesen Zuständen berührt das Schiff mit dem Schiffsbauch die Mittelsenkrechte der Scheibe und mit dem Bug oder Steven eine Sonnenwend-Diagonale (Abb. 4 und Abb. 9). Schiffsbug und –steven ragen gerade so weit auf, dass das Schiff bei diesen Kontakterscheinungen im Tangentialpunkt auf der Sonnenwend-Diagonale endet. Ist das Schiff in der oberen Bildhälfte, so erfolgt die Berührung der Sonnenwend-Diagonalen mit dem Innenrand, ist es in der unteren Bildhälfte, so berührt der Schiffsaußenkreis die Diagonale, womit die kleine Verlagerung des Schnittpunkts der Diagonalen gegen die Scheibenmitte ausgeglichen wird. Mit dieser viermaligen eleganten Einpassung des goldenen Schiffs in die stumpfen Winkelsektoren aus Mittelsenkrechte und Sonnenwende-Diagonalen hat man – neben der oben angeführten Mondwendedeutungsvariante - einen weiteren möglichen Grund für die gewählte Größe, d.h. für die in Gold ausgeführte Winkelspanne des runden Schiffssektors gefunden.

Mit der Idee des Schiffskontaktes lässt sich nun auch der bislang noch ungedeutet verbliebene elliptische Innenrand der Horizontsegmente ins Schema der Dynamischen Interpretation einfügen. Der Innenkreis des Schiffes berührt die „Segmentinnenrandellipse“ immer just in jenen Momenten des Zyklus, in denen der mitgeschleppte Mondinnenkreis sich anschickt, den Scheibenrand zu überqueren bzw. sich wieder vollständig in die Scheibe einzufügen (Abb. 10). Auch dabei erfolgt der Kontakt mit dem Endpunkt des Schiffes.

Damit sind alle besonderen Symbole auf der Himmelsscheibe angesprochen und jedes fügt sich durch mindestens ein besonderes Kontaktereignis mit den beweglichen Teilen des Mechanismus in den Gesamtzusammenhang der Dynamischen Interpretation ein. Ob sich auch in der Sternverteilung weitere Zusammenhänge widerspiegeln ist sehr ungewiss. Auffällig ist zumindest noch, dass sich die meisten Sterne durch wenige Kreise verbinden lassen. So umgibt z.B. ein Sternkreis aus neun Sternen das zentrale Rundsymbol und der Radius dieses Sternkreises gleicht dem Radius des Schiffsaußenkreises und des Mondinnenkreises. Dies könnte ein Hinweis auf ein noch komplexeres Kreisgeflecht unter Einbeziehung der hier nicht weiter behandelten übrigen Sternsymbole sein.

Kontakt des Schiffsinnenkreises mit der Segmentinnenrandellipse und Kontakt des mitgeschleppten Mondinnenkreises mit der Scheibenrandellipse

Abb. 10: Kontakt des Schiffsinnenkreises mit der Segmentinnenrandellipse und Kontakt des mitgeschleppten Mondinnenkreises mit der Scheibenrandellipse

Zwei-Ring-Kontakt des Plejadenkreises an den zwei Zentralringen in der unteren Bildhälfte

Abb. 11: Zwei-Ring-Kontakt des Plejadenkreises an den zwei Zentralringen in der unteren Bildhälfte

Zwei-Ring-Kontakt in der oberen Bildhälfte (gleiches Datum im Folgejahr)

Abb. 12: Zwei-Ring-Kontakt in der oberen Bildhälfte (gleiches Datum im Folgejahr)

Als weiteres ausgezeichnetes Datum findet man schließlich noch den Zustand des „Zwei-Ring-Kontaktes“ des Plejadenkreises mit den Zentralringen (Abb. 11 & 12). Der Plejadenkreis schmiegt sich dabei an beide Zentralringe an; einmal in der oberen und einmal in der unteren Bildhälfte. Beide Zustände liegen (bis auf 2 Bildzahlen) den halben Umlaufszyklus voneinander getrennt und entsprechen folglich dem gleichen Datum in jedem der zwei dargestellten Jahre. Das überrascht insofern, weil die Zentralringe nicht symmetrisch zur Scheibenmitte liegen. Möglicherweise ist auch hier ein besonderes Ereignis am Sternenhimmel dargestellt. Als Kandidat bietet sich das Verblassen des Orion und des Sirius in der Morgendämmerung im Meridian ca. 20 Tage vor dem Herbstanfang an – ein Ereignis, das auch von Hesiod Jahrhunderte später in „Werke und Tage“ erwähnt wird.

Die Umfänge der Kreise und Ellipsen auf der Himmelsscheibe stehen im Rahmen der Toleranz in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Man findet für die Proportionen der Umfänge (in willkürlichen Einheiten):

24 (Scheibenrandellipse) : 12 (Schiffsaußenkreis und Mondinnenkreis) : 11 (Schiffsinnenkreis) : 10 (Mondaußenkreis) : 8 (zentrales Rundsymbol) : 4 (Plejadenkreis).

Sowohl die Ganzzahligkeit der Kreisproportionen als auch der hier vorgestellte Mechanismus erinnern an die mathematischen Prinzipien, nach denen im platonischen Dialog „Timaios“, der mehr als tausend Jahre später entstand, die „Weltseele“ und die Gesetzmäßigkeit ihrer ewigen Bewegung beschaffen ist.

Der Text und die Abbildungen sind in dem pdf-Dokument himmelsscheibe.pdf (946 KB) zum Download zugänglich.

Die dynamische Interpretation lässt sich zu einer lunisolaren Kalenderdeutung mit einem fünfjährigen Basisschaltzyklus, wie er auch im keltischen Kalender von Coligny und im vedischen Kalender „Vedanga Jyotisha“ in Gebrauch war, ausbauen. Davon wird im Dokument hsvn_lunisolar.pdf (836 KB) berichtet (in englischer Sprache).
 
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